Kuriositätenglossar
Statt eines chronologischen Wochenrückblicks gibt es heute mal ein Kuriositätenglossar zum Leben in Ciudad Juárez.
- Alkohol
- Die wichtigste Flüssigkeit in diesen Breitengraden. Hält das tägliche Leben am Laufen und die Erwachsenen munter. Wird zwar immer erst nach Schichtende konsumiert, dann aber in grossen Rationen. Mexikanisches Bier ist ein tolles Anschauungsbeispiel dafür, wie sich der Mensch den lokalen Gegebenheiten anpasst – in diesem Fall der enorme Hitze: Manche Sorten kommen mit derart wenig Alkohol aus, dass sie beinahe wie Wasser getrunken werden können. Da mir persönlich dunkleres Gebräu besser schmecken, trinke ich jene jeweils nur, um meinen Wasserhaushalt zwischendurch wieder ins Reine zu bringen.
Wo gutes Bier zu finden ist, sucht man mich nicht lange
Gerade mit Freunden macht es besonders viel Spass
- Arbeit
- In Juárez wird viel gearbeitet – zumindest was die Stundenanzahl betrifft. Was während dieser vielen Stunden passiert, würde ich nicht gerade als effizient, dafür als sehr entspannt bezeichnen. Jeden Tag werden Süsswaren herumgereicht, Witze gerissen und viel geschwatzt. Gerade ich bin manchmal sehr froh um diese Ablenkung, da mir mein miserabler Arbeitscomputer immer mal wieder Kopfschmerzen beschert. Dass die Arbeit einen hohen Stellenwert einnimmt, ist kein Wunder in dieser Stadt. Ausser der Nähe zur amerikanischen Wirtschaftskraft gibt es nämlich absolut keinen Grund, seinen Wohnsitz in diese Wüste zu verlegen. Erst gestern führte ich ein Gespräch mit einem ehemaligen Geschichtslehrer aus Guadalajara, der heute für den vierfachen Lohn Metall für unsere Firma bearbeitet. Traurig aber wahr.
Bei jeder Geburtstagsfeier, immer: Das Geburtstagskind muss den Kuchen “eröffnen”
- Essen
- Da dieses Thema einen hohen Stellenwert in meinem Leben geniesst, war in diesem Newsletter schon häufig die Rede vom Essen. An dieser Stelle möchte ich gerne eine Mutationen kritisieren, die sich in die westliche Version der mexikanischen Küche eingeschlichen hat. In die Tortilla (allumfassendes Fladenbrot) gehören neben den fleischigen Saucen höchstens noch Käse und Gewürze. Alles andere (Bohnen, Reis, Guacamole…) ist Beilage und damit auf den Teller verdammt. Durch diese Limitierung sollte der resultierende Burrito immer noch durch den von Daumen und Zeigefinger geformten Kreis passen. Faustdicke Varianten, wie ich sie in den Staaten schon gegessen habe, findet man in Mexiko definitiv keine.
So hat ein Burrito im Norden auszusehen
Des weiteren wird hier alles mit pikanten Gewürzen verschärft – auch Früchte. Wer erkennt den Inhalt dieses Bildes?
- Familie
- Das absolut Heiligste hier ist die Familie und damit auch das wöchentliche Zusammensein an Sonntagen. Und innerhalb der heiligen Familie verkörpert die Mutter die allerhöchste Heiligkeit. Es ist nun aber nicht so, dass Fremden keinen Zutritt zu diesen sakralen Riten gewährt würde. Im Gegenteil durfte ich bereits mehrmals Teil von solchen Feierlichkeiten sein und fühlte mich dabei stets sehr willkommen. Dort kommt man auch immer in den Genuss von köstlicher Hausmannskost wie Carne Asada oder Pozole (reichhaltige, klare Suppe mit Siedfleisch).
Einmal mit der Grossfamilie von Ricardo
Und einmal mit der kleineren Familie von Eder
- Sport
- Klar dominiert wird der Sportsektor hier vom allgegenwärtigen Fussball. Als bestes Beispiel gilt mein eigener Hausherr, der sechsmal die Woche kicken geht und sich täglich über die körperlichen Schmerzen beschwert. Dass diese Fussballverrücktheit nicht längst in die USA übergeschwappt ist, kann ich mir nur dadurch erklären, dass der Informationsfluss zwischen den beiden Nachbarn nur von Norden nach Süden fliesst. Jedenfalls kann ich von grossem Glück sprechen, dass wenigstens eine winzige Community den Weg zum Radsport gefunden hat. Bei den miesen Bedingungen für Radfahrer (fehlende Radstreifen, schlechte Strassen, kaum Natur, grosse Hitze), kommt das einem kleinen Wunder gleich. Es erstaunt daher nicht, dass sich viele im Fitnessstudio vor dem unwirtlichen Klima verdrücken.
Ricardo hoch über der Nachbarstadt El Paso
- Wetter
- Bisher war hier vor allem die Rede von der enormen Hitze und ständigem Sonnenschein. Dass es auch anders geht, durfte ich erst kürzlich erfahren, als ein Aussenposten des Hurrikans Irma eine ordentliche Portion Wasser über der Stadt entleert hat. Da die Infrastruktur absolut nicht auf solche Ereignisse ausgelegt ist, hat es zuerst in der Firma durchs Dach getropft und auf dem Heimweg durften wir die Seetüchtigkeit des Autos austesten. Abschüssige Strassen verwandeln sich in reissende Bäche und auch noch während der nächsten Tage steht das Wasser an manchen Orten knietief.
Biblische Regengüsse bekommen der Stadt gar nicht gut
- Wohnen
- Die Behausungen von Juárez sind vielleicht das deutlichste Zeichen, dass man sich in einem “Drittweltland” befindet. Klein und eng wie sie sind, verströmen sie nicht gerade das Gefühl von Luxus. In meinem Fall kommen leider noch die Attribute dreckig und unaufgeräumt hinzu, weil mein Mittbewohner sich lieber um andere Sachen kümmert (siehe Sport). Es macht darum sehr viel mehr Sinn, seine Zeit ausserhalb der eigenen vier Wände zu verbringen, worüber ich auch nicht gerade unglücklich bin. Dies garantiert wenigstens, dass ich an den Wochenenden nicht nur zuhause rumlümmle, wie ich das in der Schweiz gerne und viel zu oft gemacht habe.
Meine Bescheidene Behausung inklusive ewiger Baustelle
- Im starken Kontrast zur Willkommenskultur der Leute stehen hierbei die vergitterten und vielfach gesicherten Häuser und Nachbarschaften. Wenn das Schloss aber mal für einen geöffnet worden ist, heisst es beim Abschied mit grosser Wahrscheinlichkeit: “Wenn du es jemals brauchen solltest, dieses Haus ist Dein Haus”. So bin ich in meinen zwei Monaten hier bereits zu einem veritablen Grossgrundbesitzer aufgestiegen.
Die Nachbarn gegenüber – wovor sie sich wohl schützen?
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